Kann man die Natur berechnen?

 

Es vergeht kein Tag auf unserem Planeten ohne, dass dabei etwas passiert. Ein scheinbar ununterbrochener Ablauf von Prozessen, durchzieht unser Leben und drängt sich häufig in unser Unterbewusstsein ohne konkret hinterfragt zu werden. Wen interessiert es schon, wenn ein Blatt im Herbst langsam und geräuschlos auf den Boden fällt? Es ist ein augenscheinlich normales Phänomen. Es entsteht zunächst nicht der Eindruck, dass die Modellierung dieses Vorgangs bahnbrechende Erkenntnisse über die Wurzeln des Charakters unserer Natur offenbart. Faktisch ist ohnehin schnell geklärt: Die Kraft die dafür verantwortlich ist, dass das Blatt zu Boden fällt, ist die Gravitation. Eine der vier Grundkräfte der Physik, zu jeder Zeit, an jedem Punkt im Kosmos gleichberechtigt gültig.

 

Für eine oberflächliche Betrachtung dessen, was wirklich vor sich geht, reicht das zunächst aus. Bekanntlich versuchen sich Wissenschaftler jedoch daran, eine möglichst umfangreiche und qualitativ hochwertige Analyse des vorliegenden Systems durchzuführen. Dieser Prozess umfasst weit mehr als die Frage ,,Wieso fällt das Blatt auf den Boden?". Die Umstände die das Abfallen des Blattes herbeiführen, sind zb. nach wie vor ungeklärt. Eine wichtige Zusatzfrage wäre darüber hinaus also: Wieso fällt das Blatt überhaupt vom Baum ab und unterwirft sich anschließend der Schwerkraft?

 

Die Systemtheorie als Lösungsansatz

 

In letzter Instanz ist es so, dass jede für eine zutreffende Gesamtbeschreibung der Situation, aufzubringende Frage auf eine Kernfrage hinausläuft, die uns schließlich an den Rand unserer Erkenntnismöglichkeiten bringt. Die Frage ist: Können wir konkret vorhersagen, dass das Blatt auf den Boden fällt, und bestimmen wann es dies tut? Zugegeben ist der Weg bis zur intensiven Auseinandersetzung mit dieser Frage, ein sehr steiniger mit vielen zunächst unausweichlich wirkenden Hindernissen. Uns helfen bei der Frage, inwiefern Natur vorhergesagt und berechnet werden kann, vor allem systemtheoretische Ansätze. Die Systemtheorie verwendete ich gelegentlich schon einmal in anderen meiner Texte (unter anderem in ,,Die Zukunft unserer Sonne“). Der Grund dafür ist trivial. Die Systemtheorie eignet sich hervorragend zur Transformation einer mathematischen Beschreibung der Welt in eine Anschauung, die von Abstraktionsvermögen und Kreativität lebt.

 

Konkret nimmt die Systemtheorie an, dass sich viele in der Natur auftauchende Phänomene und Prozesse mithilfe der Interaktion von Systemen verstehen lassen. Ein System ist definiert als die Gesamtheit der in einer Struktur auftretenden Systemelemente. Man könnte also schreiben:

 

Systemtheorie meint...

Interaktion von Systemen führt zu beobachtbaren Prozessen

System: Eine aus vielen Elementen bestehende Einheit.

 

Den Begriff System kennen wir aus der Physik, wenn auch in einem anderen Kontext. Es sei daher davor gewarnt, dem Begriff „physikalisches System“ mit dem herkömmlichen Denkmuster eines systemtheoretischen Ansatzes näher zu kommen, obschon beide gegenseitige Analogien aufweisen mögen. Mithilfe unserer Systeme und der Tatsache, dass sie wiederum aus einzelnen Teilelementen bestehen, die das Erscheinungsbild der Systeme im Gesamten prägen, wenden wir uns nun der eigentlichen Natur zu.

 

Lineare Systeme und der Laplace'sche Dämon

 

Vermutlich kennt ihr die Geschichte, wonach dem Physiker Isaac Newton bei seinem (sicherlich wohlverdienten) Mittagsschlaf ein Apfel auf den Kopf gefallen sein soll. Im Zuge dessen, stellte er sich dieselbe Frage, die wir uns in der Einleitung stellten: Wieso fällt der Apfel? Pierre-Simon Laplace war ein französischer Mathematiker, der sich das erste mal mit sogenannten linearen Systemen und ihrer Vorhersagbarkeit befasste. Er war der Auffassung: Kenne ich in einem System alle gültigen Naturgesetze und den Anfangszustand, so ist es mir möglich für jeden beliebig gewählten Zeitpunkt eine vollständige Berechnung und Vorhersage des Systems zu machen. Dieses unter dem Namen LaPlace'scher Dämon bekannte Gesetz, trifft nachweislich zu. Allerdings gilt es nur für lineare Systeme, in denen auch lineare Kausalität besteht.

 

Kausalität bezeichnet das Prinzip von Ursache und Wirkung. Fällt ein Glas in Form einer Ursache zu Boden, so geht es als Wirkung beim Aufprall kaputt (zumindest bei hartem Untergrund). Ursache und Wirkung, sind in etwa gleich groß, proportional zueinander und deswegen linear. Darüber hinaus ist es unausweichlich linearen Systemen in ihrer mathematischen Beschreibung lineare Gleichungen zuzuteilen. Eine lineare Gleichung ist jedoch eine Gerade, und wie bereits ein Unterstufenschüler weiss, somit kein allzu komplexes mathematisches Resultat. Lineare Systeme können also unproblematisch vorhergesagt und berechnet werden. Ein Beispiel dafür, ist ein fallender Ball. Bei der Kenntnis aller gültigen Naturgesetze (sie liegen in Form der vier Grundwechselwirkungen der Physik vor) und der Kenntnis der Anfangsbedingungen ( der Ball befinde sich zb. in 20 Metern Höhe und fällt senkrecht in Richtung Erdboden) können wir genau berechnen:

 

  • Wann er auf der Erde einschlägt

  • Welche Kraft dabei freigesetzt wird

  • Wo der Ball nach einer bestimmten Zeit ist

Usw...

 

Die Natur macht es uns jedoch in der Regel nicht ganz so einfach. Tatsache ist, dass viele Systeme die wir mithilfe der Systemtheorie beschreiben wollen, vielfältig mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung stehen. Als Beispiel gelte das nun bereits lang bekannte Mehrkörperproblem. Sobald wir es nämlich mit der Interaktion zweier oder mehrerer Systeme gleichzeitig zu tun haben, bilden sich nur schwer vorhersagbare Rückkopplungsmechanismen aus. Was ist nun ein Rückkopplungsmechanismus?

 

Komplex statt linear - Was die Natur wirklich kennzeichnet

 

Im Allgemeinen versteht man darunter die Tatsache, dass ein Teil der Ausgabe eines Systems, ihm als Information über die Ausgabe erneut zugeführt wird, allerdings in abgewandelter Form. Die Information über die Ausgabe der Information an die Außenwelt, kann das System vielfältig verwenden was zu den zwei bekannten Unterformen der Rückkopplung führt:

 

  1. Positive Rückkopplungen, die strukturelle Veränderungen des Systems bewirken.

  2. Negative Rückkopplungen, die einem System notwendige Stabilitäten verleihen.

 

Da in der Natur sowohl Wandel als auch Stabilität entscheidende Faktoren sind und schon immer waren, scheinen in ihr beide Formen der Rückkopplung in bestimmter Abhängigkeit und Komplementarität wirksam zu sein. Nun befinden wir uns an der Übergangsphase der linearen Systeme, die in die nichtlineare Dynamik überführt werden und folglich gemeinhin als komplex zu bezeichnen sind.

 

Die Nichtlineare Wechselwirkung von Teilelementen eines Systems wird als Komplexität bezeichnet.

Jene Form von Komplexität ist der prototypische Systemcharakter im heutigen Universum.

 

Halten wir zunächst fest: Ob wir Phänomene und Mechanismen in der Natur vorhersagen können, hängt entscheidend von ihrer eigenen Natur ab. Es mag paradox klingen und vielleicht ist es das auch. Entscheidend ist, welcher Dynamik sich diejenigen Systeme unterworfen haben, deren Analyse für die Modellierung von Naturphänomenen erforderlich ist. Sind sie nichtlinear, so sind auch Ursache und Wirkung im Allgemeinen nicht mehr proportional zueinander. Kleine Ursachen haben große Wirkungen. Ein tiefreichendes Studium, der den Systemen zugrundeliegenden Dynamik entscheidet also, ob wir sie berechnen und vorhersagen können, oder „nur“ mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten argumentieren.

 

Nichtlineare Systeme und die Kausalität

 

Kommen wir nochmals auf das Prinzip der Unverhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung zu sprechen. Wie oben gesagt liegt nichtlinearen und folglich komplexen Systemen auch eine nichtlineare Kausalität zugrunde. Anfänglich leicht veränderte Anfangsbedingungen führen am Ende zu großen Abweichungen. Als geeignetes Beispiel dafür, hält ein Billardtisch her. Stellen wir uns vor, ein Profi stößt die Weiße Kugel genau in das Zentrum, des sich auf dem Tisch befindenden Dreiecks, bestehend aus 15 Kugeln. Nach dem Stoß, wird sich ein bestimmtes Verteilungsmuster der Kugeln ergeben.

Reproduziert der Profi seinen ersten Stoß im Rahmen seiner "Kunst" möglichst genau, so ergibt sich ein zweites Verteilungsmuster. Dies wird, mit an Sicherheit angrenzender Wahrscheinlichkeit jedoch wenig Ähnlichkeit mit dem Muster des ersten Stoßes aufweisen. Der Grund: Selbst ein versierter Profispieler schafft es nicht, seinen ersten Stoß bis ins kleinste Detail zu reproduzieren. Minimal veränderte Unterschiede in der Stoßkraft, dem Stoßpunkt und vielleicht auch den Windverhältnissen etc. resultieren in einer großen Wirkung, nämlich in einem sichtbar differierenden Muster, das sich nach dem Stoß ergibt. Das Billardspiel, ist somit unberechenbar! Gleiches gilt im Übrigen auch für den Fußball, Golf, Tennis und jede andere Sportart in der Kleinigkeiten Großes Bewirken können.

 

Nun ist uns bei der Transformation auf natürliche Prozesse „weit draußen“ fast eines entgangen. Es geht um die Möglichkeit der Reproduktion. Inwieweit nämlich die Natur in der Lage ist, einmal geschaffene Ausgangsbedingungen für einen Prozess haargenau noch einmal zu reproduzieren um ihn erneut exakt gleich durchzuführen ist noch ungeklärt. Wer komplexe Systeme mag, muss auch reproduzieren können, und zwar strenggenommen bis in die Unendlichkeit-Genau hinein. Für uns, ist sowas natürlich unvorstellbar.

 

Seit längerer Zeit ist bekannt, dass auch komplexe Systeme anfällig für Instabilitäten sind. Zum Beispiel: Mit einer Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit eines Flusses, formen sich hinter einem Brückenpfeiler Wirbel → Es kommt zur Instabilität durch die Veränderung eines Systemelements. Die große Empfindlichkeit komplexer Systeme hat auch zur Konsequenz, dass Störungen in einzelnen Teilelementen außerordentlich schnell auf die Gesamterscheinung übergreifen. In linearen Systemen spielt dieser Effekt eine untergeordnete Rolle. Punktuelle Veränderung in einer nichtlinearen dynamischen Struktur zieht langfristig auch die Veränderung anderer Teilelemente nach sich.

 

Andere Teilelemente des Flusses sind zb.:

  • Seine Länge

  • Seine Breite

  • Die Wassertemperatur

  • Der PH-Wert des Wassers

  • Seine Bodenbeschaffenheit

    usw.

 

Der Schmetterlingseffekt - Die Wettervorhersage stimmte wieder nicht ...

 

Der oben erwähnte Effekt, nach dem in komplexen Systemen kleine Ursachen zu großen Wirkungen führen, wird übrigens auch als Schmetterlingseffekt bezeichnet. Vor allem in der alltäglichen Wettervorhersage, spielt der eine gewichtige Rolle. Zum besseren Verständnis müssen wir uns aber zunächst mit der Entstehung von Wettervorhersagen befassen. Wettervorhersagen entstehen im Allgemeinen auf folgende Art:

 

Die Erde wird geographisch in ein Gitternetz unterteilt. Das Gitternetz selber besteht aus kleineren Zellen, die repräsentativ für die Subelemente des Gesamtsystems Gitternetz (oder das Wetter) stehen. In der ganzen Welt werden nun die vorhandenen atmosphärischen Zustandsgrößen in jeder beteiligten Zelle des Netzes gemessen (zb. Luftdruck, Temperatur, Strömungsverhältnisse etc.) und zusammengetragen. Die gesammelte Information über die Zustände in den Einzelzellen führt schließlich auf Grundlage der physikalischen Naturgesetze zu einem Simulationsentwurf. Der Computer berechnet so aus einzelnen Gitterzellen, das Wettergeschehen für ein gewisses Gittervolumen. Warum aber entwickelt sich das Wetter oft anders, als in der Vorhersage? Es hängt in der Regel damit zusammen, dass der Computer mit falschen Daten gefüttert wurde. Ist auch nur in einer einzigen Zelle zb. der Luftdruck ein wenig zu ungenau vermessen worden, so führt eine anfänglich leichte Abweichung der Simulation von den eigentlichen Werten zu großen Abweichungen am Ende. Aus einer völlig normalen Eigenschaft komplexer, natürlicher Systeme ist deswegen nicht auf die Unfähigkeit der beteiligten Meteorologen zu schließen. Außerdem stimmt häufig genug, was gesagt und behauptet wird.

 

Komplexe Systeme und die Selbstorganisation

 

Ein weiteres Merkmal komplexer Systeme ist ihre Selbstorganisation. Im Text ,,Die Zukunft unserer Sonne“ redete ich bereits darüber. Jeder sogenannte Hauptreihenstern justiert sein hydrostatisches Gleichgewicht bei minimalen Abweichungen fortwährend neu. Entweder besteht die Möglichkeit, dass er schrumpft und seine Leuchtkraft folglich ansteigt oder er expandiert, sofern in seinem Innern zu viel Energie zur Verfügung steht. Selbstorganisation wird besonders deutlich bei uns Menschen. Wir sind in jeglicher Hinsicht sehr komplexe Systeme. Schließlich organisiert sich der menschliche Körper selbst, falls zb. Erreger eindringen, die das Immunsystem als pathologisch ausfindig macht. Fieber, Schüttelfrost, Erbrechen und die ganzen ekligen Begleiterscheinungen sind letztlich Schutzmechanismen, die sich als eine Form von Selbstorganisation ausbildeten um den Fortbestand des biologischen Systems ,,Mensch" zu sichern. Übrigens ist beim Thema Sonne noch etwas  interessant.

 

Das Phänomen der Emergenz

 

Es sind sogenannte dissipative Strukturen in ihrer Photosphäre. Astronomen beobachten durch Sonnenteleskope sogenannte Granulen. Es handelt sich um Konvektionszellen mit einer Ausdehnung von ca. 200 Kilometern und einer relativ kurzen Lebenserwartung von durchschnittlich 5 Minuten. Sie sind das Resultat von Emergenz. Emergenz ist ein weiterer Hinweis darauf, dass einem System nichtlineare Dynamik zugrundeliegt, und sich der Zustand des Systems allgemein schwer modellieren und beschreiben lässt. Emergenz bezeichnet die Herausbildung neuer Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Im Fall unserer Sonne, sind es vornehmlich die Zustandsgrößen Druck, Temperatur und Dichte die im jeweiligen Zusammenspiel zur Ausbildung der beobachteten Granulen führen. Genau so entstehen durch das Zusammenspiel von Wasser und Strömungsgeschwindigkeit die allseits bekannten Wellenmuster im Sand bei Ebbe am Meer. 

 

Zusammengefasst.

 

Fassen wir doch kurz und knapp einmal zusammen, wie wir bei der Frage ob Natur berechnet werden kann im Lösungsansatz zu verfahren haben.

 

Wichtig ist zunächst zwischen Systemen zu differenzieren, deren Beschreibung sowohl einer linearen- als auch der nichtlinearen Dynamik unterliegt. Abhängig davon ob sie nun als linear-kausal oder nichtlinear-kausal aufzufassen sind, liegt ihnen eine andere mathematische Modellierung zugrunde. Sind genug Prozesse und Zustände eines solchen Systems gefunden worden, kann man auch auf seine eigenständige Natur schließen und folgern, dass eine mathematische Vorhersagbarkeit im Rahmen systemtheoretischer Ansätze entweder möglich ist oder nicht. 

 

Und was ist nun mit unserem Blatt vom Anfang? Können wir vorhersagen, dass es fällt und wann? Theoretisch könnten wir, hätten wir nur die Kenntnis über den Ausgangszustand des Baumes und die Kenntnis über alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten, denen sich der Baum zu unterwerfen hat. In der Realität ist das natürlich nicht so einfach, wie in der Theorie. Demnächst könnt ihr ja mal daran denken und versuchen für euch selber zu entdecken, ob ihr in eurem Umfeld komplexe und einfache Systeme ausfindig machen könnt. Und selbst wenn nicht, so bringt wenigstens Wernher von Braun das Ganze gut und knackig auf den Punkt: ,,Wir sollten den Kosmos nicht mit den Augen des Rationalisierungsfachmanns betrachten. Verschwenderische Fülle gehört seit jeher zum Wesen der Natur.“